5 Fragen an Rüdiger Nehberg

Grenzen überschreiten, gegen den Strom schwimmen, an das Unmögliche glauben. Rüdiger Nehberg durchquerte Südafrika, den brasilianischen Urwald und fuhr in einem Baumstamm über den Atlantik. Anfangs unternahm er die Expeditionen aus purer Abenteuerlust, später nutzte er sie, um auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam zu machen. Zu Nehbergs Lebenswerk zählen sein Engagement für das südamerikanische Volk der Yanomani und der Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung. Zuletzt sprach der Abenteurer und Menschenrechtsaktivist immer wieder von mehr Plänen als Restlebenszeit. Am 1. April 2020 ist Rüdiger Nehberg im Alter von 84 Jahren gestorben.

Als großer Bewunderer von Rüdiger Nehberg hat mich sein Tod sehr berührt. Vor ein paar Jahren habe ich ihn bei einem Vortrag kennengelernt. Seine Botschaft, wie man Visionen aufbaut und Strategien entwickelt, um Ziele zu erreichen, aber vor allem sein starker Wille im Kampf um die Würde anderer haben mich tief beeindruckt. Sehr gefreut habe ich mich, als ich ihn im März 2017 als Gesprächspartner für mein Format „5 Fragen an…“ gewinnen konnte. Anlässlich seines Todes finden Sie nachfolgend das Interview mit ihm. Ein beeindruckender Mann mit einem beachtlichen Lebenswerk!

1. Ihr Leben ist geprägt von Abenteuern, extremen Lebenssituationen und vielen Grenzerfahrungen. Was hat Sie angetrieben, diese Grenzerfahrungen zu machen? Inwieweit haben diese Erfahrungen Sie geprägt?
Begonnen hat alles mit angeborener Abenteuerlust, Neugier auf die Welt und Freude am Risiko. Dabei lernte ich staunend, dass vieles anders war als mein Kulturumfeld es mich gelehrt hatte. Manches war besser, anderes schlechter. Ich lernte zu differenzieren, mich vor Verallgemeinerungen zu hüten und eigene Meinungen zu bilden. Nach jedem Horizont tauchte ein neuer auf. Je weiter, je fremder, desto spannender. Reisen auf eigene Faust wurden zu meinem Adrenalinquell. Sie prägten mein Leben. Dann wurde ich Augenzeuge schlimmer Menschenrechtsverletzungen. Ich sah die Chancenlosigkeit der Betroffenen und entschied mich, ihnen zu helfen. Dabei fühlte ich mich gestärkt durch die Werte unserer Demokratie, eine überbordende Kreativität und eine Portion Galgenhumor. So erhielt mein Abenteuer sogar Sinn und mein Leben eine ganz andere Erfüllung.

2. Im Jahr 2000 haben Sie die Menschenrechtsorganisation TARGET gegründet für den Kampf gegen die Genitalverstümmelung von Mädchen. Wie wird ein gelernter Bäcker und Konditor zum Survival-Experten und Aktivisten für Menschenrechte? Was treibt Sie an?
Survival hat verschüttete Urfertigkeiten unserer Vorfahren und Urinstinkte freilebender Tiere in mir reaktiviert. Ich konnte meinen Abenteuerradius erheblich steigern. Ich begab mich in Gebiete, die ich sonst niemals kennen gelernt hätte. So wurde ich Zeuge des drohenden Völkermordes am letzten freilebenden Urvolk Amerikas, den Yanomami-Indianern in Brasilien. Bedroht durch eine Armee von 65.000 Goldsuchern, geduldet von kriminellen Politikern. Mit nie versiegender Kreativität, Ausdauer und Optimismus habe ich wesentlich dazu beigetragen, das Drama so bekannt zu machen, dass die Indianer nach 20 Jahren im Jahre 2000 einen akzeptablen Frieden erhielten. Die wichtigste Erfahrung: Niemand ist zu gering, Visionen zu realisieren und Missstände zu beheben. Diese Erfahrung wurde zur wichtigsten Voraussetzung für den nächsten Einsatz: Das Verbrechen Weibliche Genitalverstümmelung. Auch dort bin ich Augenzeuge geworden. Zusammen mit meiner Frau Annette. Diese 5.000 Jahre alte Schande müssen täglich 8.000 Mädchen ertragen. Viele sterben. Etwa 80 Prozent sind Muslimas, die übrigen Christen und Andersgläubige. Weil die meisten Opfer Muslimas sind, der Brauch in krassem Widerspruch zum Koran steht, war unsere Vision, ihn mit der Ethik des Islam zur Sünde erklären zu lassen. Auf monatelangen Kamelkarawanen hatte ich die vielen positiven Werte des Islam kennen gelernt. Ich wäre nicht mehr am Leben, gäbe es nicht die große Gastfreundschaft. Doch unsere Idee verstieß gegen den Zeitgeist. Um davon unabhängig zu werden, haben wir einen eigenen Verein (TARGET e. V.) gegründet. Nach nur sechs Jahren kam es bereits zum Höhepunkt unseres Lebens. Auf einer von uns organisierten internationalen Gelehrtenkonferenz in der Azhar zu Kairo, vergleichbar mit dem Vatikan der Katholiken, haben die höchsten Gelehrten der Welt Weibliche Genitalverstümmelung in einer Fatwa zu einem „strafbaren Verbrechen“ erklärt, das „höchste Werte des Islam verletzt“. Der Großmufti Ägyptens hatte dafür eigens die Schirmherrschaft übernommen. Er nannte das Ergebnis „menschheitsgeschichtlich beispiellos“.

Seither ist es unser Ziel, diese Entscheidung in die Köpfe der Betroffenen zu implantieren. Die Non-plus-ultra-Vision wäre die Verkündung der Botschaft in Mekka durch das saudische Königshaus. Daran arbeiten wir.

3. Wie sind Sie auf Ihren zahlreichen Reisen mit Extremsituationen umgegangen? Denn immer wieder haben Sie sich großen Gefahren und Risiken ausgesetzt.
Vor jeder Reise, vor jedem Vorhaben, analysiere ich die Risiken und minimiere sie bestmöglich – sowohl geistig als auch körperlich. Wenn möglich, habe ich sogar mehrere Asse im Ärmel. Beispiel: Mein erster Marsch zu den Yanomami im Regenwald Nordbrasiliens. Damit die Indianer mich nicht für einen Goldsucher hielten und abschössen, ging ich allein. Vom Einzelgänger fühlt sich niemand bedroht. Ich war nur mit Hemd und Shorts bekleidet und so besser durchschaubar. Mein Gepäck war in einem wasserdichten Kanisterrucksack. Darin war auch ein Revolver, falls ich lebensbedrohliche Konflikte mit Goldsuchern bekommen würde. Der Revolver ist robuster und schneller schussbereit als eine Pistole. Durch mein Wissen um Survival wusste ich, wie man unbekannte Pflanzen auf Genießbarkeit testet, welche Lianen Trinkwasser enthielten. Ein Trainingsmarsch über 1.000 Kilometer ohne Nahrung und Ausrüstung von Hamburg nach Oberstdorf hatte mich gelehrt, dass ich notfalls eine lange Flucht locker durchstehen würde, ohne mich bei Menschen blicken lassen zu müssen. Ich verlor damals 25 Pfund Körpergewicht.

Ein Fischerboot hatte mich am Rande der brasilianischen Zivilisation abgesetzt. Vor mir der unendliche wegelose Dschungel. Mein wichtigster Trumpf war eine Mundharmonika. Auf ihr spielte ich alle 15 Minuten eine Melodie, um die Indianer anzulocken und positiv zu stimmen. Nach nur einer Woche standen drei Yanomami vor mir. Ich sprudelte ihnen den einzigen Satz entgegen, den ich in ihrer Sprache beherrschte: „Nicht schießen, ich bin ein Freund!“ So begann der 20 Jahre währende Einsatz mit spektakulären Aktionen, die international wahrgenommen wurden: Per Tretboot, massivem Baumstamm und Bambusfloß von Afrika nach Brasilien. Auf dem Segel oder im Gepäck Appelle von Amnesty International. Ich habe wegen der Indianer den Papst und die Weltbank erfolgreich eingeschaltet. Im Jahre 2.000 erhielten die Yanomami infolge internationalen Drucks einen akzeptablen Frieden.

4. Woher nehmen Sie die Kraft und die Motivation, so viel zu leisten und vor allem sich unermüdlich diesen Herausforderungen zu stellen? Sie könnten ja auch einfach Ihren Ruhestand genießen.
Wenn ich mich je in den Ruhestand begeben hätte, wäre ich längst tot. Ich brauche Aktion und Herausforderungen. Was mich motiviert, sind die Wut des Augenzeugen, die Verantwortung des sozial veranlagten Menschen und die schrittweisen Erfolge.

5. Gibt es eine Botschaft, die Sie den Menschen mitgeben möchten und wenn ja, welche ist das?
Niemand sollte sich für zu gering halten, etwas zu verändern, das ihn stört