1. Dein neues Buch heißt „Wir führen anders“. Was genau ist dieses „Anders“, von dem Du sprichst?
Das Buch ist eine Reihe von Impulsen, genau genommen 24 1/2. Durch diese Impulse hindurch tönt ein sich verbindender Gedanke, der Ausdruck dieses Andersseins ist.
Meiner Meinung nach folgt Management, so wie wir es kennen und wie es in den meisten Unternehmen betrieben wird, einer sehr zentralen Konvention. Und diese heißt, es ist sinnvoll, ein Unternehmen so zu behandeln, als sei es eine Maschine. Jedem Problem, das einem im Unternehmen vor die Füße fällt, wird meistens mit der Frage begegnet „Wie lösen wir dieses Problem?“ Wenn ich frage „wie löse ich dieses Problem?“, frage ich immer nach Wissen. Ich unterstelle schon mit meiner Frage, dass es Wissen geben muss, um das Problem lösen zu können. Das setzt insgeheim voraus, dass die Organisation bzw. das Unternehmen eine berechenbare Maschine ist, die man nur entschlüsseln müsste. Die ganze Berater- , Trainer- und Weiterbildungsindustrie ist durchzogen von Rezepten, die eine Antwort auf diese Frage bieten möchten.
So entsteht der Eindruck, dass es immer ein Rezept gibt, wie man Schritt für Schritt vorgehen muss, um sein Unternehmen erfolgreicher zu machen. Das verführt zu dem Denken, dass man, wenn man ein Rezept verfolgt, die Lösung erhält. Die Tatsache, dass nicht alle Unternehmen ähnlich erfolgreich sind, müsste jedoch schon ein Hinweis darauf sein, dass es mit dem Befolgen eines Rezepts allein nicht getan sein kann.
Mein Buch bietet einen Perspektivwechsel an, der Gebrauch macht von insbesondere der soziologischen Organisationstheorie, die versucht, Organisationen nicht als Maschinen zu verstehen, sondern als lebendige Kommunikationssystemen. Ich vergleiche das immer mit Spielen. Bei einem Spiel ist man immer den Spielregeln ausgesetzt. Man könnte es auch so ausdrücken, dass bei einem Spiel eigentlich das Spiel die Spieler spielt. Denn in dem Moment, in dem ich ein anderes Spiel spiele, verhalte ich mich auch anders. Wenn ich „Mensch ärgere dich nicht“ spiele, spiele ich ganz anders als bei „Monopoly“. Führungskräfte müssen verstehen, dass die eigene Organisation und ihre kommunikativen Muster erst einmal decodiert werden müssen. Welchen Regeln folgt das Spiel insgeheim?
Bei intrinsify möchten wir nicht das bessere Rezept liefern, sondern wir möchten sehr scharfe Werkzeuge zum Denken zur Verfügung stellen und nicht das Denken abnehmen. Das ist eher der Fall beim klassischen Vorgang in der Change-Literatur à la „Verfolge das 5-Phasen-Modell, etc., dann bist Du erfolgreich“. Nein! Unternehmen sind dann erfolgreich, wenn sie für sich passgenaue individuelle Lösungen finden, dafür müssen sie selbst denken. Damit sie Probleme lösen, die andere nicht mal verstehen.
2. Deine Erkenntnisse basieren zu einem großen Teil auf der Systemtheorie von Niklas Luhmann. Was unterscheidet sie von anderen bzw. warum glaubst Du, hier bessere Antworten für die Organisation von Unternehmen zu finden?
Du kannst auf drei Weisen auf ein Unternehmen schauen: Entweder nimmst Du die klassische Betriebswirtschaftslehre. Dann schaust Du nur auf den vermessbaren, dokumentierbaren Teil des Unternehmens. Der Blick bietet eine Menge, aber er reicht nicht mehr. Als die Märkte noch träger waren, war er lange Zeit ausreichend. Spätestens seit den 2000ern ist die Sättigung der Märkte so weit fortgeschritten, dass man sie nicht mehr ignorieren kann. Nicht alles, was man zählen kann, zählt in der Wertschöpfung.
Der betriebswirtschaftliche Blick, der im Wesentlich geprägt vom Taylorismus, ist, ist verdammt dazu, zu objektivieren. Ihn braucht es auch weiterhin – aber nicht nur.
Oder Du schaust von der Psychologie kommend auf ein Unternehmen. Dabei wird versucht, die Menschen zu verstehen. Dann sprechen wir über Menschen, Charaktere, Mindset. Das ist gut, reicht aber auch nicht aus.
Die Luhmannsche Systemtheorie nimmt einen anderen Blick ein. Sie sagt: Wäre es nicht klüger, davon auszugehen, dass eine Organisation eigentlich nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationsvorgängen besteht? Warum könnte das helfen? Wenn Du das Verhalten der Spieler beim Monopolyspiel verstehen möchtest, ist es vermutlich nicht fruchtbar, die Psychologie zu bemühen. Du würdest viel schneller ans Ziel kommen, wenn Du Dir die Frage stellst „Wie muss man denn handeln, um ans Ende des Spiels zu kommen?“ Wenn Du den Menschen ein anderes Spiel vor die Nase setzt, z.B. die Familie, den Sportverein oder eine politische Partei, dann handeln sie schlagartig anders. Verhalten ist Persönlichkeit und Kontext. Dabei wird der Kontext immer ziemlich unterschätzt.
Wenn ich beispielsweise in einer Organisation feststelle, dass Mitarbeitende nicht miteinander kooperieren und dass darunter die Wertschätzung leidet, dann kann ich durch die psychologische Brille gucken und mich fragen „Was tue ich, damit Menschen wieder kooperieren? Oder ich frage mich „Warum kooperieren sie nicht? Warum ist das ein erwartbares Verhalten? Dann bin ich gezwungen, mir „das Spiel“ anzugucken. Dann fällt mir möglicherweise auf, dass sie individuelle Spielvereinbarungen haben, dass ihnen die Produktivitätskennzahlen im Nacken sitzen, sie demnächst Beförderungsgespräche mit dem Vorgesetzten haben. Es gibt gute Gründe, sich neben dem Versuch, sich mit den Kolleginnen und Kollegen über die Wertschätzung abzustimmen, auch auf die eigenen Vorteile zu besinnen.
Die Systemtheorie ist eine Art und Weise, Vorgänge zu beobachten und ein System nicht mehr als die Summe seiner Einzelteile zu verstehen, sondern als Unterschied zwischen sich selbst und seiner Umwelt. Der Wesenskern ist abstrakt, aber die praktischen Vorteile, die man daraus ziehen kann, sind gewaltig. Das Beispiel mit der Kooperation zeigt, wie sehr das Verhalten vom Kontext geprägt sind.
3. Aus welchen Gründen scheitern Change-Projekte oder noch größere Veränderungen in der Praxis so oft?
Wenn ich eine Organisation als Maschine verstehe, bin ich davon überzeugt, dass ich die Einzelteile der Maschine ändern muss, um die Organisation zu verändern. Dabei sind die Einzelteile die Menschen. Das heißt, ich muss die Menschen ändern, damit sich die Organisation ändert. Es werden Personalentwicklungsmaßnahmen bemüht, es werden Kulturentwicklungsworkshops gemacht. Meist werden dann 3 bis 5 Werte aufgeschrieben. Das sind meines Erachtens absolute Trivialitäten. Die Fehlannahme ist, dass Menschen selbst über die Kultur, die im Unternehmen herrscht, disponieren können. Kultur wird als Gestaltungsgegenstand missverstanden, daher scheitern diese Vorhaben auch. Ich spreche von Veränderungen, die in den kulturellen komplexen Apparat einer Organisation eingreift. Ich spreche über Veränderungsvorgänge, bei denen sich das Verhalten von Menschen ändern soll. Normalerweise lässt man die Verhältnisse mehr oder weniger stabil und es wird appelliert, dass die Menschen sich ändern und lernen, wie sie sich neu verhalten sollen. Wenn ich jedoch will, dass sich Verhalten verändert, muss ich die Verhältnisse verändern.
Wir sagen, es ist besser, sich anzuschauen, welche Rahmenbedingungen dem gewünschten Verhalten im Weg stehen und ändert diese.
Ein weiterer Grund, weshalb Change-Projekte häufig scheitern, ist die sogenannte Reißbrettfalle. Man entwirft am Reißbrett eine Organisation und glaubt, dass die Organisation einem Modell folgen kann. Eine Organisation besteht aber aus vielen subtilen ungeschriebenen Gesetzen und ausgetretenen Pfaden, die meistens einen großen Teil des Erfolges ausmachen. Sie sind der Klebstoff, der alles zusammenhält. Wenn ich Veränderung betreibe, bei der ich glaube, dass sich diese Strukturen auf Knopfdruck verändern könnten, dann trage ich der Komplexität und der informellen Hinterbühne der Organisation keine Rechnung. Das ist die Verwechslung von Ursache und Wirkung. Das heißt, wenn ich Menschen ändere, ändere ich damit nicht die Organisation. Ein weiterer Fehler ist unserer Auffassung nach, dass sich Organisationen nach Bauplan entwickeln lassen. Deshalb scheitern auch die ganzen Phasen-Modelle. Diese basieren immer auf der Überzeugung, ich müsste die Mitarbeitenden für etwas gewinnen. Anstatt zu versuchen, die Mitarbeitenden „ins Boot zu holen“, muss man sich die Frage stellen, welcher Kontext dafür sorgt, dass das gewünschte Verhalten eintritt. Um das herauszufinden, arbeite ich mit Experimenten, so wie ich es mit anderen lebendigen Systemen auch machen würde. Wenn ich beispielsweise den Urwald entwickeln möchte, dann sage ich dem Urwald auch nicht, wie er sich verhalten soll, sondern ich nehme Interventionen vor und schaue, was passiert. Zur Veranschaulichung: Ich habe zuhause einen Wurmkompost. Wenn ich mein Gemüse in den Kompost einfülle, dann beobachte ich wie sich die Würmer verhalten. Ich muss sie lesen können, um die „Organisation Wurmkiste“ verstehen zu können, um dann mit ihr arbeiten zu können.
4. Wie wird sich Führung in Zukunft entwickeln und was bedeutet das für die Führungskräfte?
Erst mal kann ich sagen, was nicht passieren wird. Im Moment wird propagiert, dass die moderne Führungskraft Coach sein muss und mit Fragen führen soll. Da bin ich ein großer Skeptiker. Die Probleme, die wir gerade diskutiert haben, werden dann auf dem Rücken der Führungskraft ausgetragen. Das ist auch der Grund dafür, weshalb heute so viele Führungskräfte leiden und manche keine Führungskräfte mehr werden möchten. Man kann nicht die ganzen systemischen Probleme auf dem Rücken der Führungskräfte austragen und ihnen sagen „Ihr seid der Schlüssel zum Erfolg, indem Ihr Euch ändert“. Man muss das Führungssystem ändern, nicht den Führungsstil.
Wenn wir über die Zukunft der Führung sprechen, dann sprechen wir von einer Art von Führung, die einen ganzheitlicheren Blick auf die Verhältnisse wirft, die im Unternehmen zu dem entsprechenden Verhalten führen. Ich glaube es gibt zwei tendenzielle Entwicklungspfade, das eine ist die Verhärtung dessen, was wir jetzt schon beobachten. In einem letzten Versuch, Steuerung zu reetablieren, wird man immer mehr Steuerung betreiben, noch mehr zentralisieren, noch mehr Managementinstrumente einführen und das Ganze zur Spitze des Zynismuses führen. Das beobachtet man in manchen Unternehmen, in denen die Mitarbeitenden die ganze Zeit auf der Hinterbühne agieren müssen. In diesen Unternehmen ist das meiste Business-Theater. Hier können sich die Unternehmen nur halten, weil die Hinterbühne so intakt ist. In anderen Unternehmen, in denen man sich den Luxus nicht leisten kann, in denen die Margen nicht so groß sind, wird es eine Aussiebsituation geben. Über die kreative Zerstörung, wie es Schumpeter genannt hat, wird es allmählich eine Selektion der Unternehmen geben.
Die Zukunft der Führung muss meiner Meinung nach stärker an Kontext und Verhältnissen arbeiten. Es wird in der Übergangsphase einen starken Versuch geben, diese tayloristische Tendenz noch weiter auszubauen, weil das gerade in großen Unternehmen kaum aufzuhalten ist und nicht anders gedacht werden kann. Was auch viel mit unserer Gesellschafts- und Aktienrechtsstruktur zu tun hat. Wenn Du eine AG bist, ist das Dilemma schon eingebaut, denn dann brauchst Du kurzfristige Ergebnisse. Du ziehst dir eine Managerkaste heran, die nicht unternehmerisch denken kann.
Das alles haben wir uns nicht ausgedacht, wir beobachten die Praxis und erkennen, wie Hochleistungsunternehmen arbeiten und versuchen daraus Prinzipien zu machen, mit denen Führungskräfte denken und ihre eigene Organisation entwickeln können.
5. Welche Werkzeuge braucht eine effektive Führungskraft in Zukunft?
Du brauchst eben Werkzeuge und keine Rezepte. Das ist schon mal der erste riesige Schritt. Wenn ich als Führungskraft merke, dass ich einem Rezept ausgesetzt bin, das mir diktieren möchte, was ich tun soll, dann kann ich bereits innerlich abschalten. Ein Werkzeug kann nur in Verbindung mit demjenigen, der es nutzt, wirksam werden. Eine Kettensäge in der Hand bringt mich womöglich auf eine Idee. Ohne Idee ist die Kettensäge nutzlos. Werkzeuge sagen einem nicht, was man tun soll. Wir sagen immer Rezepte „schreien“ und Werkzeuge sind „stumm.“
Es braucht Denkwerkzeuge, die einem Erkenntnisse bringen, die man vorher nicht hatte. Ein fundamentales Werkzeug ist das, was Luhmann sehr kompliziert als Unterscheidung zwischen dem kontrollierbaren und unkontrollierbaren Kausalbereich beschrieben hat. Gerhard Wohland, ein deutlich praxisorientierter Systemtheoretiker, hat das beschrieben als die komplizierte und komplexe Wertschöpfung. Wir sagen auch „Wertschöpfung mit oder ohne Wissen“. Ich sitze vor einem Problem und schaue mir an, wie die Organisation damit umgeht. Die erste Frage, die ich mir stellen kann, ist „Habe ich es mit einem Problem zu tun, für das es bereits Wissen gibt oder geben kann?“ Wenn es dafür Wissen geben kann, z.B. die Erstellung von Marketingunterlagen, die bereits mehrfach erstellt wurden oder ein Routinevorgang in der Montage eines Produktionsunternehmens, dann kann man sich die Frage stellen „Wie kann man das Wissen so an den Ort des Geschehens bringen, um möglichst verschwendungsfrei arbeiten zu können? Dann kann man das ganze tayloristische Arsenal wie Steuerungen, Regeln, Prozessanweisungen, das seit Jahren auf dem Markt ist, nutzen.
Oder es ist ein Problem, dass in seiner Natur so ist, dass es im Einzelfall nie richtiges Wissen geben kann. Wenn ich beispielsweise ein Verkaufsgespräch führe und mein Gegenüber zu überzeugen versuche, dann brauche ich eine Idee, wie ich was sagen muss. Dass das etwas mit individuellem Talent zu tun hat, sieht man z.B. daran, dass zwei Verkäufer, die dieselben Schulungen durchlaufen haben können, ungefähr dasselbe Lebensalter und viele Ähnlichkeiten in der beruflichen Laufbahn haben, sich dramatisch unterscheiden in ihrem Erfolg. Der eine hat ein Gefühl dafür, wie er was tut, der andere nicht.
Die Frage, die sich die fiktive Führungskraft stellen kann, ist. „Wenn ich es mit einem Problem zu tun habe, für das es kein objektives Wissen geben kann, wie kann ich dafür sorgen, dass meine Organisation nicht vom Gegenteil ausgeht? Wie kann ich vermeiden, dass ich den Mitarbeitenden, die am Ort des Geschehens Entscheidungen treffen und ihren Ideen Ausdruck verleihen müssen, möglichst wenig im Weg stehe? Und dann kann ich meine Organisation durchpflügen und sehe ein Beurteilungssystem. Was macht dieses Beurteilungssystem? Es sorgt dafür, dass sich die Mitarbeitenden ständig fragen, wie sie beim nächsten Beurteilungsgespräch abschneiden. Das heißt, dass die Mitarbeitenden einen Teil der Aufmerksamkeit auf sich verwenden müssen, denn sie haben ein Ziel, das sie erreichen möchten. Und das steht möglicherweise im Widerspruch zu dem, was sie gerade tun. Sie haben ein Budget, das sie einhalten müssen, Kennzahlen, die sie befriedigen müssen, etc. Wenn ich als Führungskraft erkenne, dass wir es hier mit einem Problem zu tun haben, für das es noch kein Wissen geben kann, dann ist es blöd, wenn wir als Organisation so tun, als könnte man das steuern. Denn Steuern ist letztlich ein zur Verfügung stellen von Wissen. Mit diesem Denkwerkzeug, also der Unterscheidung von Wertschöpfung mit und Wertschöpfung ohne Wissen, kann die Führungskraft einen dramatischen Unterschied machen, denn sie kann die beiden Typen von Problemen unterscheiden und sie entsprechend anders behandeln. Das befreit die Wertschöpfung, das macht wirtschaftlicher und sorgt dafür, dass die Mitarbeitenden am Ort des Geschehens Entscheidungen treffen können, die am Markt referenziert sind. Eine Führungskraft braucht Denkwerkzeuge, die sie in die Lage versetzen, das, was sie tagtäglich beobachtet aus einer anderen Perspektive beobachten zu können. Das ist genau das, was wir tun. Wir versuchen, Denkwerkzeuge in die Welt zu bringen.
Als Audio anhören:
Über Mark Poppenborg
Mark Poppenborg ist Unternehmer und Redner. 2011 hat er zusammen mit Lars Vollmer intrinsify gegründet. Mit intrinsify will er das vorherrschende Verständnis von Unternehmensführung durch ein effektiveres ersetzen. Seine Erfahrungen, Thesen, Tools und Praxisberichte teilt er in seinem neuen Buch „Wir führen anders! 24½ befreiende Impulse für Manager“, im Unternehmer-Podcast „Zwiebelschälen bis zum Kern“, auf LinkedIn und natürlich in der intrinsify Akademie.