5 Fragen an Cosima Dorsemagen

1. Die Welt steht gerade Kopf. Home-Office, Kontaktverbote und virtuelles Führen regeln unsere soziale Arbeitsgemeinschaft. Was macht diese Situation mit uns Menschen aus (arbeits-)psychologischer Sicht?

Wir haben in den letzten Wochen wie nie zuvor erlebt, dass Dinge, die wir für völlig selbstverständlich gehalten haben, plötzlich nicht mehr gelten. Für viele von uns ging das erst einmal mit einer großen Verunsicherung einher, mit dem Gefühl von Kontrollverlust. Die Hamsterkäufe, die wir zu Beginn gesehen haben, kann man psychologisch als (irrationale) Versuche deuten, Kontrolle wiederherzustellen, für Sicherheit zu sorgen.

Was wir erleben, ist eine nie dagewesene Ausnahmesituation, und Ausnahmesituationen bedeuten Stress. Die ganze Gesellschaft war ab Mitte März, psychisch wie körperlich, in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt.

Schon unter normalen Bedingungen stellt Home-Office besondere Anforderungen an diejenigen, die zu Hause arbeiten. Man muss sich gut organisieren können, Grenzen zwischen Arbeit und Privatem ziehen. Jetzt arbeiten auch Menschen von zuhause aus, deren Arbeitsanforderungen vielleicht nur mehr schlecht als recht ins Home-Office passen, z.B. weil sie ganz viele Schnittstellen mit anderen haben. Viele haben gleichzeitig Betreuungspflichten oder leiden darunter, sich zuhause isoliert zu fühlen. Und – auch das ist nicht trivial – längst nicht alle haben einen ruhigen, ergonomisch eingerichteten Ort zu Hause, der unseren üblichen Anforderungen an einen Arbeitsplatz entspricht.

Plötzlich arbeiten viele Menschen, für die das ganz neu ist, von zuhause aus. Und das unter verschärften Bedingungen. Das ist eine enorme Belastung. Und es ist ziemlich bemerkenswert, dass das trotzdem klappt. Die Arbeit wird gemacht. Viele machen jetzt sogar besonders kreative Arbeit, entwickeln neue Lösungen für das Unternehmen in der Krise.

In Unternehmen, wo Führungspersonen zuvor Bedenken hatten, Home-Office zu erlauben, zeigt sich jetzt: Die arbeiten ja trotzdem. Aus der Forschung weiß man, dass die Sorge, dass Mitarbeitende im Home-Office, überspitzt formuliert, nur im Schlafanzug Kaffee trinken und vielleicht noch ihre Wäsche waschen, in aller Regel unbegründet ist. Menschen sind zu Selbstständigkeit in der Lage und dazu, im Sinne des Unternehmens mitzudenken. Jetzt erleben wir das in diesem großen ungeplanten Praxisexperiment unter Krisenbedingungen.

Möchte man das Arbeiten im Home-Office auch künftig weiterführen, gilt es möglichst rasch auch angemessene Bedingungen dafür zu schaffen. Home-Office funktioniert vor allem dann gut, wenn die zu erledigenden Aufgaben dazu passen. Es bedarf eines ruhigen und gut ausgestatteten Arbeitsplatzes. Und: Home-Office sollte für die Beschäftigten eine freiwillige Angelegenheit bleiben. Nicht jeder arbeitet gern zuhause und sollte das dann unter Normalbedingungen auch nicht müssen.

2. Was raten Sie Unternehmen, um ihrer Fürsorgepflicht / ihren Unternehmenspflichten Sorge zu tragen? Wie können diese in der jetzigen Zeit „gesund führen“?

Als Unternehmen muss ich im Blick haben, dass Arbeitsbedingungen und Anforderungen an die Beschäftigten zusammenpassen. Für die aktuelle Situation bedeutet das, dass ich als Unternehmen nicht die gleichen Leistungserwartungen an meine Beschäftigten haben kann wie unter normalen Bedingungen. Eben weil wir in einer Ausnahmesituation sind, die an sich schon Stress bedeutet, und zudem auch noch viele von uns mit besonderen Herausforderungen neben der Arbeit zu tun haben, seien es Betreuungspflichten oder auch Gefühle von Einsamkeit und Isolation.

Der Fürsorgepflicht nachzukommen, kann jetzt auch bedeuten, unbürokratisch Lösungen zu ermöglichen, sei es mit Blick auf die technische Ausstattung zuhause oder was flexible Arbeitszeiten betrifft.

Gesund zu führen heißt dreierlei. Es bedeutet erstens, die Arbeitsbedingungen meiner Mitarbeitenden menschengerecht, motivierend und gesundheitsförderlich zu gestalten, zweitens, gut mit meinen Mitarbeitenden in Kontakt zu sein, also die zwischenmenschliche Beziehung zu gestalten. Und drittens bedeutet es, Vorbild zu sein mit Blick auf gesundheitsbewusstes Verhalten.

Dieses „Vorbild sein“, lässt sich für Führungspersonen so übersetzen: Wenn ich „gesund führen“, also gut für andere sorgen will, dann geht das nur, wenn ich auch gut für mich selbst sorge. Ich darf und soll erst einmal für mich selbst überlegen: Wie kann ich jetzt auf meine Gesundheit achten? Wie sorge ich für Pausen, Erholung und ausreichend Schlaf? Wann bin ich erreichbar, wann nicht? Wie bleibe ich mit Menschen im Kontakt, die mir wichtig sind? Wann nehme ich mir Zeit für Sport und Bewegung?

Dann gilt es noch genauer hinzuschauen als sonst. Wer aus dem Team braucht was? Wer ist das selbstständige Arbeiten im Home-Office schon gewohnt, für wen ist das ganz neu? Wer hat vielleicht schon von zuhause gearbeitet, hat aber plötzlich nebenher zwei Kleinkinder zu versorgen? Von wem weiß ich, dass ihm eine klare Trennung von Beruflichem und Privatem sehr wichtig ist? Wer wohnt allein und hat jetzt besonders wenig soziale Kontakte? Wer hat eine besonders herausfordernde Situation?

3. Führungskräfte, die ihre Teams auf Distanz führen, stehen vor großen Herausforderungen, den „emotionalen Draht“ zu den Mitarbeitenden nicht zu verlieren. Welche praktischen Möglichkeiten sehen Sie im Rahmen der vorgegebenen Abstandregeln?

Als Führungsperson bin ich gefragt, aktiv auf meine Mitarbeitenden zuzugehen. Es möglichst einfach zu machen, miteinander in Kontakt zu sein und auch Schwierigkeiten anzusprechen. Also gerade jetzt nicht nur sagen: „Bei Problemen kommt einfach auf mich zu“, sondern „Wir sehen uns in jedem Fall dann und dann“ (wenn auch gegebenenfalls nur virtuell).

Es ist wichtig, auch im Krisenmodus Wertschätzung zu zeigen. Denn da sind zahlreiche scheinbare Kleinigkeiten, die jetzt wegfallen: Im Home-Office gibt es keinen freundlichen morgendlichen Gruß, kein Lächeln, wenn man sich kurz mal auf dem Flur begegnet. Und auch wenn man jetzt wieder mit Abstand im Büro arbeitet, ist ein kurzer informeller Austausch beim Kaffee oder Mittagessen nicht mehr so unkompliziert möglich wie gewohnt. Dafür sollte man so gut wie möglich Alternativen schaffen.

Wichtig ist, dass ich als Führungsperson meine Mitarbeitenden auch über die Distanz gut im Blick habe. Dass ich trotzdem merke, wenn es jemandem nicht gut geht, etwas nicht rund läuft.

Ein Krisenmodus sorgt zunächst oft für mehr Zusammenhalt in Teams. Auch das lässt sich in diesen Wochen beobachten. Man hat gemeinsam eine schwierige Situation und fühlt sich dadurch verbunden.
Dauert die Situation länger an, können aber auch vermehrt Konflikte entstehen. Wenn man sich dann gar nicht oder kaum vor Ort sieht, empfinden es viele als schwieriger, solche Themen anzusprechen, sowohl von Seiten der Führungsperson, als auch von Seiten der Mitarbeitenden. Das geht „live“ einfach besser. Und Treffen im kleinen Rahmen und mit ausreichend Abstand sind jetzt auch wieder möglich. Da gilt jetzt noch mehr als sonst: Lieber frühzeitig Probleme ansprechen, dann lassen sie sich oft auch rasch ausräumen. Lässt man sie „gären“, besteht bei wenig realem Kontakt noch mehr die Gefahr, dass man zuviel grübelt, in Gedankenschleifen gerät, und dann mit mehr Vorbehalten als zuvor wieder in den Kontakt geht. Und tendenziell sind wir in Krisensituationen eher dünnhäutiger als sonst.

4. Wie kann jeder einzelne Mitarbeitende aus Ihrer Sicht in dieser aktuellen Situation gut für sich selbst sorgen?

Um gut durch eine belastende Situation zu kommen, braucht es regelmäßige Erholungsphasen. So banal das klingen mag, Erholung ist einer der wichtigsten Faktoren, um gesundheitliche Beeinträchtigungen aufgrund von Stress bei der Arbeit zu vermeiden.
Wie erhole ich mich nun „richtig“? Erholung bedeutet vor allem, einen Gegenimpuls zu dem zu setzen, was mich belastet. Sitze ich den ganzen Tag viel, braucht es zur Erholung Bewegung. Stehe ich innerlich ständig unter Strom, hilft Ausdauersport.

Beim Arbeiten im Home-Office ist besonders wichtig, bewusst Grenzen zu setzen. Wir wissen aus der Forschung: Wenn das Abschalten von der Arbeit nicht gelingt, hat das negative Auswirkungen. Die Erholungsfähigkeit ist beeinträchtigt, es können Schlafprobleme und Erschöpfungszustände resultieren. In der aktuellen Situation kann es besonders herausfordernd sein, tatsächliche Grenzen oder auch innere Distanz zur Arbeit zu schaffen. Helfen können feste Zeiten, eine räumliche Trennung innerhalb der Wohnung oder auch Rituale, also z.B. immer direkt nach der Arbeit eine Runde Bewegung einzulegen oder auch nur auf dem Balkon dreimal tief durchzuatmen.

Mit am wichtigsten scheint mir aber, sich auch in dieser Situation um positive soziale Kontakte zu bemühen. Sich mit anderen Menschen verbunden zu fühlen, ist für uns elementar. Es ist wirklich so: Ein andauernder Mangel an sozialen Beziehungen reduziert unsere Lebenserwartung. Die negativen Auswirkungen von Einsamkeit sind in ihrer Stärke mit bekannten Risikofaktoren wie Rauchen, Alkoholkonsum oder Übergewicht vergleichbar.

Ein Psychologe von der Universität Stanford hat deshalb kürzlich ein flammendes Plädoyer gehalten: Statt „social distancing“ gilt es „distant socialising“ zu betreiben, also auch über die Distanz unbedingt Kontakt zu halten zu den Menschen, die uns wichtig sind.

5. Wie verändert Corona die „New-Work-Welt“ oder die Anforderungen an die Arbeitswelt?

Wir haben jetzt viel über die belastenden und kritischen Seiten der Coronakrise gesprochen. Und auch der Blick in die Zukunft ist für viele gerade unter ökonomischen Gesichtspunkten ganz und gar nicht rosig.

Wagen wir trotzdem den Gedanken: Was aus dieser Zeit möchten wir uns eigentlich bewahren? Sei es gesellschaftlich, im Privaten, oder eben mit Blick auf die Art, wie wir arbeiten.

Auf unterschiedlichen Ebenen sind wir alle in diesen Wochen damit konfrontiert, dass Gewohntes nicht mehr so funktioniert wie bisher. Die Ausnahmesituation hat dazu geführt, dass wir Vieles ausprobiert haben, ohne lange mögliche Bedenken zu diskutieren. Wir sind alle plötzlich wieder Lernende und Entdeckerinnen geworden. Und wir sind schnell ins Tun gekommen. Bei uns an der Hochschule hieß das zum Beispiel: Alle laufenden Weiterbildungsprogramme werden auch im Lockdown fortgesetzt. Das haben wir gemacht, verschiedene Varianten von Lernangeboten über die Distanz ausprobiert. Manches haben wir nach dem ersten Mal verworfen, anderes hat sich bewährt und wurde weiterentwickelt. Diese Handlungsorientierung ermöglicht uns die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Wir sehen, wir können etwas bewirken. Dies verbunden mit der Haltung: Es geht darum Erfahrungen zu machen und daraus zu lernen und nicht darum, etwas sofort perfekt zu machen, finde ich bewahrenswert. Da muss dann natürlich auch das Unternehmen voll dahinterstehen und das auch finanziell ermöglichen. Und diese Haltung findet sich auch in vielen „New Work“-Konzepten wieder.

Noch wichtiger ist mir aber etwas, worüber wir schon zu Beginn gesprochen haben. Die Art, wie wir in den letzten Wochen gearbeitet haben, zeigt, dass arbeitende Menschen zu Selbstständigkeit in der Lage sind. Wir sollten uns Autonomie und Mitbestimmung weiter zutrauen. Es gibt schon lange und nun auch aus der „New Work“-Richtung gut durchdachte, zum Teil auch bereits erforschte Konzepte, wie Selbstständigkeit und Demokratie im Unternehmen funktionieren können. Das sollten wir auch für das Arbeiten nach der Krise weiter angehen.

Mir scheint auch: Trotz oder vielleicht gerade wegen der Kontaktbeschränkungen sehen wir einander mehr. Wir sind präsenter, aufmerksamer, vielleicht kann man sogar sagen: empathischer für unser (virtuelles) Gegenüber. Wir interessieren uns wirklich dafür, wie es dem anderen geht. Wenn es gelänge, das auch im unaufgeregt-normalen Alltag hinzubekommen, wäre das wunderbar.

Es wäre aber naiv, einfach davon auszugehen, das und das wird bleiben. Bisweilen kommt es zwar vor, dass ein einziger Moment der Erkenntnis dazu führt, dass wir lange praktizierte Verhaltensweisen über Bord werfen und von heute auf morgen Dinge ganz anders machen. Der Regelfall ist eher, dass Veränderung, gerade die Veränderung von Einstellungen und Verhalten, ein längerer Prozess ist.
Daraus würde ich die Prognose ableiten: Nach Corona bleibt, was eingeübt ist, was bereits zu einem gewissen Maße selbstverständlich geworden ist – und wofür gute Rahmenbedingungen bestehen. Home-Office unter miserablen Rahmenbedingungen wird das sicher nicht sein.
Es bleibt das, was wir wirklich zu schätzen gelernt haben – und wofür wir bereit sind uns auch nach der Krise weiter einzusetzen. Was das konkret für mich oder mein Unternehmen ist, darüber lohnt es sich nun noch einmal neu nachzudenken. Und das möglichst, bevor wir alle wieder ins Hamsterrad einsteigen.


Über meine Gesprächspartnerin
Cosima Dorsemagen ist Psychologin (Dipl.-Psych.), Juristin (LL.B.) und Wirtschaftsmediatorin. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule Nordwestschweiz leitet sie dort die Weiterbildung „CAS Arbeits- und Organisationspsychologie“. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Frage, wie sich aktuelle Formen der Leistungssteuerung auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit von Beschäftigten auswirken. Zudem arbeitet sie als Wirtschaftsmediatorin und unterstützt Unternehmen bei der Gestaltung menschengerechter und gesundheitsförderlicher Arbeitsbedingungen. Weitere Infos unter www.fhnw.ch/