5 Fragen an Dr. Stefan Kaduk

 

1. Herr Dr. Kaduk, was ist ein Musterbruch?

Ein Musterbruch ist weit mehr als zur Schau getragenes Querdenken, das momentan unglaublich in Mode ist. Bei einem Musterbruch geht es darum, substanziell die Dinge anders anzugehen. Das heißt, das Spiel zu verändern, ohne jedoch das Spielfeld gänzlich zu verlassen. Ein Musterbruch beginnt mit einer sehr verbindlichen Reflexion und dem Erkennen von Mustern, in denen man – als Einzelner und als Unternehmen – gefangen ist. Diese Reflexion verdeutlicht einem zunächst einmal die eigenen Muster. Danach stellt man sich die Frage, welche Nebenwirkungen diese Muster mit sich bringen. Manchen Mustern, gerade in Unternehmen, folgt man, weil sie auf den ersten Blick für Professionalität stehen. Doch welche Nebenwirkungen bringt klassische Professionalität mit sich? Mit „leisem Mut“ werden dann, häufig im Verborgenen, Dinge ausprobiert und Experimente gewagt. Unserer Auffassung nach sind Experimente die klügeren Projekte. Sie beginnen mit einer Hypothese, die daraufhin auf die Probe gestellt wird. Ein Musterbruch ist weder ein kopfloses Reinspringen in etwas, noch geht es darum, auszusteigen.
Zur Verdeutlichung ein praktisches Beispiel. Die Firma Allsafe in Engen hat vor einiger Zeit eingeführt, dass für nichts mehr eine zweite Unterschrift erforderlich ist. Die Überlegung dahinter: Sobald beispielsweise ein Sechs-Augen-Prinzip zu befolgen ist, hat das Thema Eigenverantwortung im Grunde keine Chance. Denn unterschwellig wird den Menschen durch eine solche Regel signalisiert, dass ihrem Handeln doch nicht zu 100% getraut wird. Indem nur noch eine Unterschrift erforderlich ist, wurde bei Allsafe eine Struktur geschaffen, in der Eigenverantwortung zwar nicht garantiert werden kann, jedoch eine deutlich höhere Chance hat. Und da man nicht theoretisch vorentscheiden kann wie Menschen mit gewährtem Freiraum umgehen, muss man ein Experiment starten.

2. Bemerken Sie einen Wandel in den Unternehmenskulturen, wenn Sie als Berater unterwegs sind? Und wenn ja, in welche Richtung verändern sie sich?

Das Bewusstsein, dass wir es mit einer steigenden Dynamik zu tun haben, ist angekommen. Um es mit Gerhard Wohland zu sagen: Die Menschen spüren täglich den Wandel dadurch, dass die Anzahl der Überraschungen steigt. Intellektuell ist es angekommen, dass wir in den Unternehmen nicht mehr so weitermachen können wie bisher. Derzeit beobachte ich zwei Strömungen: Firmen, die beginnen, sich Fragen zu stellen, die Strukturen hinterfragen und anfangen zu experimentieren. Und dann gibt es Unternehmen, die unverdrossen „das tote Pferd“ reiten und weitermachen wie bisher – teilweise auch in dem Sinne, dass sie das Falsche sogar noch präziser tun.

 

3. In „Musterbrecher – Der Film“ und auch in Ihren drei Büchern interessieren Sie sich für Menschen in Organisationen, die Sie als Musterbrecher bezeichnen, d. h. die anders als gewohnt agieren und dadurch erfolgreicher sind. Was sind die typischen Merkmale von Unternehmen, die als Musterbrecher arbeiten?

Typische Merkmale lassen sich nicht festmachen. Es war ja der klassische und letztlich ziemlich erfolglose Ansatz der Erfolgsfaktorenforschung, einen Zusammenhang zwischen den Strukturmerkmalen (z. B. Unternehmensgröße, Branche oder Führungsspanne) und dem Erfolg herstellen zu wollen. Für uns wurde es in den 17 Jahren, in denen wir uns nun mit dem Musterbrecher-Thema befassen, immer klarer, dass Musterbrecher ihre eigene Exzellenz erfinden. Sie versuchen erst gar nicht, irgendwelche vermeintlichen Best Practices zu kopieren. Dieser Versuch wäre auch recht unergiebig, weil hinter allem stets eine Haltung steht, die per se nicht zu »implementieren« ist. Man denke an die Versuche, den Lean-Ansatz einzuführen, der in unterkomplexer Weise oft als Ansammlung von Methoden verstanden wird.

Konkret zur Frage: Musterbrecher sind mutige, aber keine fahrlässig agierenden Experimentatoren. Sie begnügen sich nicht damit, Plastikwörter wie „Agilität“ oder „Empowerment“ in die Leitbilder zu schreiben, sondern erwecken diese für sich genommen leeren Begriffe zum Leben. Dafür braucht es den Mut, eine Hypothese aufzustellen und zu testen. Beim Schweizer Zoll war beispielsweise die Frage: Wie kann ich Führung im eigentlichen Sinne wieder erleben? Die Hypothese lautete: Wenn ich Führung von meiner Fachlichkeit entkopple, kann ich sehr viel über meine Qualitäten als Führungskraft lernen. Dann kann ich meine ureigene Führungsaufgabe wieder ausführen. Das hat der Schweizer Zoll geschafft, indem die Top-Führungskräfte für zwei Monate einen Bereich geführt haben, von dem sie fachlich keine Ahnung hatten. Das war sehr beeindruckend.

 

4. Gib es ein Rezept für einen Musterbruch, das sich auch auf andere Unternehmen übertragen ließe?

Ein Rezept kann es naturgemäß gar nicht geben. Aber in allen Organisationen, die sinnvoll mit klassischen Mustern brechen, gibt es Menschen, die Regeln maximal kreativ interpretieren. Das ist ein Unterschied zum bloßen Regelbruch, der oft einfach nur unklug ist, weil es überall zu befolgende Sachzwänge gibt. Es ist beispielsweise nicht mutig, sondern schlicht dumm, wenn eine Bank die Auflagen der BaFin ignorieren würde.
Eine grundsätzliche Überlegung: Eine Organisation will sich ihrem Wesen nach auf keinen Fall verändern. Ihr Zweck ist genau das Gegenteil, sie soll störungsfrei arbeiten und das Bisherige reproduzieren. Und genau deshalb werden Menschen benötigt, die – und das klingt etwas seltsam – gegen die Logik ihrer eigenen Organisation arbeiten und an die Grenzen gehen. Das ist übrigens anstrengend.

 

5. Mittelständische Unternehmen, insbesondere in weniger attraktiven Regionen oder Branchen, stehen heute vor großen Herausforderungen wie Fachkräftemangel, Mitarbeiterführung, Demografie, Arbeitgeberattraktivität. Haben Sie Tipps, wie ein Musterbruch eingeleitet werden könnte?

Geeignet sind typische Verhinderungsfragen, die darauf abzielen, Dinge nach Überprüfung wegzulassen. Eine Verhinderungsfrage könnte sein: Was verhindert beispielsweise ein Assessment Center? Zahlreiche Mittelständler meinen, dass sie bei der Auswahl geeigneter Mitarbeiter dieses Werkzeug ebenfalls einsetzen müssen. Nebenwirkungen eines Assessment Centers sind, dass im Ergebnis soziale Ähnlichkeit unter den Beschäftigten erzeugt wird. Das Unternehmen sollte sich fragen, ob es standardisierte Einstellungsverfahren einführen möchte und was diese kosten – nicht nur monetär. Denn die Ergebnisse eines Assessment Centers sind der Gegensatz zu Diversität in den Reihen der Mitarbeitenden.
Musterbrecher fragen sich eher, welche Tools und Methoden sie weglassen können, damit das Gewünschte von selbst entstehen kann. Es dürfte wohl kein Zufall sein, dass die allermeisten musterbrechenden Organisationen keinen Prozess für das Innovationsmanagement haben. Ein wichtiger Hinweis für mittelständische Unternehmen ist, keinem Professionalitäts-Ideal der Konzerne hinterherzulaufen, sondern ihren eigenen Weg zu beschreiten.