Dr. Philippe Merz
Führungskräfte prägen durch ihr Verhalten, ihre Kommunikation und durch ihre Regeln die Werte und Leitbilder eines Unternehmens. Die entstehende Unternehmenskultur prägt wiederum das Handeln und das Selbstverständnis der Mitarbeitenden innerhalb des Unternehmens. Doch wie können ernst gemeinte ethische Grundsätze in eine wirkungsvolle Unternehmenspraxis übersetzt werden? Was steht hinter großen Begriffen wie „Vertrauen“, „Anerkennung“ und „Wertschätzung“ und wie lassen sie sich in der Praxis leben? Diesen und anderen Fragen widmet sich Dr. Philippe Merz, Geschäftsführer der Freiburger Thales-Akademie für Wirtschaft und Philosophie. Der promovierte Philosoph wird von der Vision angetrieben, neueste Erkenntnisse aus der Wissenschaft lebendig und praxisnah für heutige und zukünftige Führungskräfte zugänglich zu machen. Die Thales-Akademie wurde im Jahr 2014 vom mittelständischen Familienunternehmer Dr. Frank Obergfell aus St. Georgen gegründet und bietet neben Inhouse-Seminaren auch die berufsbegleitende Weiterbildung „Wirtschaftsethik“ für Verantwortungsträger aus Wirtschaft und Gesellschaft an. Herrn Dr. Merz und die Themen der Thales-Akademie verfolge ich regelmäßig mit großem Interesse in den lokalen Medien. Besonders begeistert mich, dass sich Herr Dr. Merz als Philosoph mit diesen komplexen Themen auseinandersetzt und mit seiner Arbeit eine Symbiose aus Ethik und Wirtschaftspraxis herstellt.
1. Warum ist die Definition von Werten und Leitbildern besonders interessant für mittelständische Unternehmen?
Aus zwei Gründen: Weil die richtigen Werte keine netten Nebensächlichkeiten sind, sondern der entscheidende Faktor für den langfristigen Erfolg eines Unternehmens. Denn nur sie richten das Handeln vieler Individuen auf gemeinsame Ziele aus und motivieren dauerhaft zu guter Arbeit. Und zweitens, weil viele KMUs zwar von einer besonderen Unternehmenskultur getragen werden, aber viele tradierte Werte immer stärker infrage gestellt werden. Das hat wiederum mehrere Gründe: Zum einen unterscheiden sich die Wertesysteme der Mitarbeitenden mittlerweile stark, insbesondere durch Alter, fachliche Ausbildung, kulturelle Prägung, religiöse Überzeugung und individuelle Persönlichkeit. Hieraus entwickeln sich Spannungen, die im Alltag oft Missverständnisse und Konflikte erzeugen, obwohl in ihnen eigentlich großes Potenzial steckt. Zum anderen wirft auch jeder Wechsel an der Führungsspitze die Frage auf, welche neuen Werte zukünftig eine stärkere Rolle spielen – und welche etablierten Werte mit guten Gründen beibehalten werden sollen. Das gilt besonders, wenn mit einem Führungswechsel zugleich ein Generationenwechsel verbunden ist. Und schließlich erleben Unternehmen derzeit ganz neue Wertkonflikte durch die immer unübersichtlichere Internationalisierung und Digitalisierung ihrer Geschäftsmodelle. So stehen gerade KMUs vor der Frage, was sie eigentlich – um es mit Faust zu sagen – „im Innersten zusammenhält“.
2. Wie kann ich als Führungskraft meine Mitarbeiter für die Werte und Leitbilder meines Unternehmens begeistern?
Dafür braucht es mehrere Schritte. Sie sollten zumindest die wichtigsten Führungskräfte und einen Vertreter aus jedem Unternehmensbereich an einem bestimmten Punkt in die Formulierung ihrer Leitwerte einbinden, anstatt fertige Werte von oben herab zu verkünden. Nur dann erleben die Mitarbeiter die Werte als ihre eigenen, und nur dann begeistern sie sich für sie. Sie sollten zudem so mutig sein, sich auf wenige Leitwerte zu beschränken – dafür aber auf die richtigen, die Ihrem Geschäftsmodell, Ihrer Unternehmenskultur und den Protagonisten wirklich entsprechen. Dabei hilft es, diese zunächst ja sehr abstrakten Werte anhand von Fallbeispielen und Alltagssituationen zu präzisieren und mit Leben zu füllen. So kommt man in den konkreten Austausch darüber, was man etwa unter „Erfolg“, „Eigenverantwortung“, „Loyalität“ oder „Fairness“ verstehen will. Drittens sollten Sie mit den Kollegen vereinbaren, wie Sie zukünftig mit wiederkehrenden Wertkonflikten umgehen wollen. Entscheidend ist es aber schließlich, dass Sie als Führungskraft diese Werte überzeugend vorleben. Hier kommt allerdings eine neue Herausforderung ins Spiel: Als Führungskraft sagt Ihnen kaum noch jemand ehrlich, ob Sie dies in der Wahrnehmung Ihrer Kollegen tatsächlich tun und ob sich die Unternehmenskultur insgesamt in die gewünschte Richtung entwickelt. Und leider neigen wir ja alle zur wohl dosierten Selbstüberschätzung. Daher ist es wichtig, den Menschen regelmäßig die Möglichkeit zu bieten, ihre Eindrücke und Alltagserfahrungen aufrichtig zu formulieren.
3. Kann die Fokussierung auf Werte und Leitbilder eines Unternehmens einen Lösungsansatz für das Problem des Fachkräftemangels bilden?
Das kann sicher kein alleiniger Lösungsansatz sein. Aber ebenso sicher wird ein Unternehmen mit einem präzisen Leitbild und einer guten Unternehmenskultur viele potenzielle Mitarbeiter von sich überzeugen. Denn hiervon hängt maßgeblich die Mitarbeiterzufriedenheit ab, die für eine große Mehrheit der Beschäftigten – entgegen anders lautender Vorurteile – das wichtigste Kriterium für die Beurteilung des Arbeitgebers ist. Gerade für die jüngeren und gut ausgebildeten Mitarbeitenden ist es entscheidend, in einem wertschätzenden, vertrauensvollen und kooperativen Umfeld zu arbeiten. Aus Arbeitgebersicht heißt das, dass sich mit einem guten Ruf in Sachen Unternehmenskultur so mancher Standortnachteil oder auch eine nur durchschnittliche Bezahlung ausgleichen lässt.
4. Welche besonderen ethischen Herausforderungen ergeben sich mit der zunehmenden Digitalisierung und Automatisierung von Arbeitsprozessen?
Um nur einige Beispiele zu nennen: Wie entwickeln wir neue Geschäftsmodelle, die Menschen trotz – oder gerade wegen! – der Digitalisierung gute neue Arbeitsmöglichkeiten bieten? Wie bilden wir Menschen weiter, deren heutige Tätigkeit bald von Maschinen und Algorithmen übernommen wird und die dann mit ihrer bisherigen Expertise kaum noch Arbeit finden? Wie schützen wir unsere omnipräsenten Daten gegen Hacks, Wirtschaftsspionage und Terrorattacken? Wie ermöglichen wir ein wertschätzendes, persönliches Miteinander, wenn wir unseren beruflichen Alltag zunehmend isoliert hinter Bildschirmen aller Art verbringen? Wie gehen wir mit den geradezu explosiven Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz um? Wollen wir hier wirklich alles, was wir können? Diese Fragen müssen schon heute in vielen Unternehmen beantwortet werden; doch wir brauchen hierfür auch bessere gesamtgesellschaftliche Diskussionsplattformen, weil diese Fragen uns alle zutiefst betreffen.
5. Was ist der erste Schritt, den eine Führungskraft gehen kann, wenn sie sich mit dem ethischen Handeln des Unternehmens auseinandersetzten will? An welcher Stellschraube kann eine Führungskraft als erstes Veränderung hin zu einem ethischeren Handeln im eigenen Unternehmen erzielen?
Der erste Schritt besteht darin, sich dem Thema „Werte“ ausdrücklich zu widmen – sowohl für sich selbst als auch im Austausch mit den anderen Führungskräften. Dabei entstehen unweigerlich bestimmte Fragen wie etwa: Welche Werte sind mir eigentlich wichtig? Wie passen diese Werte mit denen meiner Organisation zusammen? Wie sehen Situationen aus, in denen diese Werte gerade nicht verwirklicht sind, mit anderen Worten: Welches Verhalten wollen wir durch die Formulierung unserer Leitwerte zukünftig vermeiden – und zwar sowohl im Umgang der Kollegen untereinander als auch in unseren Beziehungen mit Geschäftspartnern, Lieferanten, Kunden, der Öffentlichkeit oder der Natur? Und schließlich: Welche Werte setzen wir bei Wertkonflikten im Zweifelsfall an erste Stelle? Sobald diese Fragen ins Rollen kommen und ein offener und lebendiger Austausch unter den Beteiligten entsteht, ist der wichtigste Schritt gemacht.